Marcel Dupré: Kreuzweg

Der „Kreuzweg / Chemin de la Croix“ von Marcel Dupré gehört zu den bedeutendsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts für die Orgel. Obwohl stilistisch der orgelsymphonischen Schule Frankreichs zugehörig, wächst sie aus dieser heraus und schafft einen Musiktypus, der als musikalische Gattung keine festen Züge aufweist: die Orgelmeditation. Hier begründen die „Symphonie-Passion“ op. 23 und der „Chemin de la Croix“ eine für Frankreich neue geistliche – d. h. auf biblisches Geschehen oder liturgisches Wort bezogene – Orgelmusik, die mit Olivier Messiaen ihre Fortführung erfährt.

Rezensionen:

– Marcel Dupre hat seinen „Kreuzweg“ für Orgel aus dem Jahr 1932 als „sinfonisches Gedicht“ bezeichnet.​ In der Tat sind die vierzehn Kreuzwegstationen von der Verurteilung Jesu bis hin zu dessen Grablege subtile Meditationen, die über das rein plakative Beschreiben der mitunter sehr dramatischen Szenen hinausgehen.​ Dupre transzendiert das Geschehen und versucht eine theologische Deutung der Passion.​ Winfried Lichtscheidel wiederum interpretiert Dupres faszinierende Musik in einer atmosphärischen Dichte, die man sich intensiver kaum vorstellen kann.​ Etliche Produktionen mit vor allem französisch-sinfonischer Orgelmusik hat Lichtscheidel auf „seiner“ Orgel in St.​ Martinus zu Sendenhorst bereits eingespielt.​ „Der Kreuzweg“ ist seine jüngste Meisterleistung.​ Hier kommt alles auf das Glücklichste zusammen: ein Künstler, der unerschöpfliche Ressourcen zu mobilisieren weiß; eine für diese Musik prädestinierte Orgel aus der Werkstatt von Gerald Woehl; schließlich eine Aufnahmetechnik, die das Instrument und seine kathedralhafte Wirkung im Kirchenraum überzeugend einfängt.​ Nicht genug damit.​ Denn auch Dupres hymnisch-feierliches „Te Deum“ bekommt ein Festtagskleid.​ Und gekrönt wird Winfried Lichtscheidels Einspielung von den „Trois Esquisses“ op.​ 41, die man im Konzertalltag deshalb so gut wie nie hört, weil sie einfach höllisch schwer zu spielen sind.​ Lichtscheidel nimmt da jede knifflige spieltechnische Hürde – und macht Musik aus diesen halsbrecherischen Etüden.​ Grandios!“ (Münsterländische Volkszeitung)

– Der französische Organist und Komponist Marcel Dupré (1886 – 1971) hat die vierzehn Kreuzwegstationen 1932 komponiert, im Anschluss an Improvisationen zum Chemin de la Croix von Paul Claudel. Was dabei entstand, ist Programmmusik in dem Sinn, dass die Vorgänge um Christi Verurteilung bis zur Grablegung in musikalische Bilder und Symbole gefasst werden. An der 1999 erbauten Woehl-Orgel in der Kirche St. Martinus zu Sendenhorst im Münsterland spielte Winfried Lichtscheidel im April 2022 das einstündige Werk ein, wobei er die Tatsache nutzen konnte, dass diese Orgel von der Disposition her mit den französischen Cavaillé-Orgeln eng verwandt ist.
Christi Leidensweg als Sinfonie
Bei der Registrierung folgt er den Vorgaben Duprés, so dass ein geradezu sinfonisches Gesamtpanorama der eindrucksvollen Szenen entsteht, die durch symbolische Themen und lautmalerische Rhythmen miteinander verwoben sind. Nirgends gewinnt man den Eindruck rein äußerlicher Nachahmung, sondern wird gleichsam ergriffener Zeuge der erschütternden Vorgänge. Lichtscheidel ist ein sehr gewandter Organist, so dass er bei aller Einfühlung zügige Tempi wählt. Hier entsteht ein bekanntes Akustikproblem bei Tonaufnahmen mit kirchlichem Nachhall: Es gilt, zwischen Raumklang und Durchhörbarkeit zu entscheiden. In massiven, dynamisch gesteigerten Phasen herrscht bei dieser CD mehr der Gesamteindruck als die Klarlegung der Details.Wertvoll und wichtig ist in diesem Zusammenhang das Booklet (nur in deutscher Sprache verfasst), das mit zahlreichen Notenbeispielen und Erläuterungen den musikalischen Weg über die Kreuzwegstationen begleitet und einsichtig macht.
Von der Fantasie zur Etüde
Auf die großartige Kreuzweg-Darstellung folgt sinnvoll Duprés 1946 entstandene Fantasie über das gregorianische Te Deum laudamus, dessen Initium in Choralnotation im Beiheft abgedruckt ist. Hier gelingt es dem Organisten überzeugend, die Geschlossenheit des dicht gearbeiteten Stücks herauszustellen. Ruhe und Bewegung stehen dabei im Gleichgewicht bis hin zum belebten Schluss. Die drei Skizzen des Opus 41 sind markante Beispiele für Marcel Duprés Tätigkeit als Musikpädagoge. Neben spieltechnischen Schwierigkeiten, die sowohl das rasche Pedalspiel wie die Virtuosität beider Hände herausfordern, geht es um den ausdrucksvollen Kontrast zwischen lyrischen und dramatischen Passagen. Winfried Lichtscheidel kann in diesen Etüden seine Meisterschaft beweisen, die über die technische Präzision hinaus durch musikantischen Zugriff geprägt ist. Der erhellende Beiheft-Text des Organisten verdient besondere Erwähnung!

Prof. Klaus Trapp [16.01.2024] in Klassik heute